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Grand Raid du Mercantour 2009

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Der Morgen danach


"Wer sie nicht kennte, die Elemente, ihre Kraft und Eigenschaft, wäre kein Meister über die Geister."
Johann Wolfgang von Goethe


Nebel zieht auf in den Bergen

Unser kleines Zelt füllt sich zusehends. Immer mehr nasse und erschöpft aussehende Läufer kommen an, greifen dankbar nach einem Teller Nudeln, fallen auf die wenigen Hocker. Ich überlege nicht lange, hole einmal tief Luft und dann nichts wie hinaus in die Nässe. Brrrrr.

Schnell laufe ich auf einen französischen Läufer auf. Gemeinsam eilen wir durchs angenehm zu laufenden Vallon de Gordolasque. Wir laufen einen schmalen, offensichtlich kaum genutzten Trail entlang der Straße, ein paar umgestürzte Bäume zwingen uns zu mühsamen Umwegen. Der Regen schlägt zeitweise in Hagel um, eigentlich nicht unpraktisch. die Körner prallen an mir ab, ich werde nicht weiter nass. Und die Größe der Körner hält sich in Grenzen. doch es wird empfindlich kalt. An photographieren ist nicht zu denken, mir fehlt ehrlich gestanden bei diesen Bedingungen auch die Lust.


Am Aufstieg zum Col de Monjoia

Ein Krach holt mich aus meinen Gedanken. Mein Begleiter ist auf einem nassen Stein ausgerutscht. Sofort bin ich bei ihm. "Are you all right" - "Yes!" Ich reiche ihm meine Hand, ziehe ihn hoch. Weiter gehts. Ich nehme Tempo heraus, um ihm Gelegenheit zu geben, wieder in den Rhythmus zu kommen. Wir fühlen uns in diesem Regen mehr als Partner, denn als Konkurrenten. Mittlerweile sind wir auf 1260 Meter abgestiegen. Vom Blick in die Karte weiß ich, jetzt wird es heftig, der Cime de Montjoia wartet, 2366 Meter hoch. Den Aufstieg wird mir als "Aufstieg der 1000 Serpentinen" wohl mein Leben lang in Erinnerung bleiben.

Mein Partner bleibt zurück, er sei nicht so gut im Aufsteigen meint er. So mache ich mich mutterseelenallein auf den Weg nach oben.


2 handgezimmerte Kreuze krönen einen Zwischengipfel

Kehre 1... Kehre 2... Kehre 3, der Kurs erinnert mich an den legendären Anstieg nach L'Alpe d'Huez der Tour de France, doch dort sind es nur 21 Kehren, alle benannt nach ehemaligen Siegern.

Kehre 20... Kehre 21... Kehre 22, meine Kehren sind viel mehr und nicht benannt. Dafür ohne Unterlass und steil... Kehre 23... Kehre 24... Kehre 25.


Immer näher komme ich den Wolken. Bald habe ich sie erreicht!

Langsam aber sicher komme ich den Wolken immer näher. Es ist absehbar, dass ich bald darin verschwinden werde. Und die Serpentinen nehmen kein Ende. Gefühlte 100 Kehren liegen schon hinter mir. Kehre 101... Kehre 102 ... Kehre 103...


Blumen am Wegrand lenken ab von der Monotonie des Aufstiegs

Bevor ich in den Nebel eintauche, mache ich eine kurze Pause. Ich habe Hunger und Durst. ein paar Läufer überholen mich. Das ist gut so, denn dann habe ich Orientierung, wenn ich in den Wolken verschwinden werde.


Überholen ala Formel 1: passiert wird nur noch bei Stopps

Kehre 197... Kehre 198... Kehre 199. Der Nebel hat mich gefangen. Wir Läufer bilden ohne uns zu verständigen Partnerschaften. Überholt wird nicht mehr, Nur noch, wenn einer kurz an die Seite tritt, um zu trinken oder kurz auszuruhen, dann übernimmt eben der Nächste die Führung.


Wir tauchen in den Nebel ein

Die Orientierung wird zunehmend schwieriger. Mittlerweile haben wir den Wald verlassen. Der Pfad führt weiter in Serpentinen über Grashänge. Adrian wird mir später berichten, dass er hier querfeldein geradeaus den Berg hinauf stürmen konnte. Wir sind froh, auf dem Weg zu bleiben, halten eifrig Ausschau nach den Markierungen. Mehrfach laufen wir falsch, müssen umkehren.


Markierungen und der vor mir Laufende sind kaum mehr erkennbar.

Der Nebel und die fehlende sicht machen die ständigen Kehren noch zermürbender. Kehre 998... Kehre 999... Kehre 1000. Geschafft!!!!

Ich habe es hinter mir! Ich habe die 1000 Kehren bezwungen!


Sichtkontakt halten gibt Sicherheit

Irrtum! Nach einem kurzen ebenen Stück über einen Grat, fangen die Kehren erneut an: Kehre 1001... Kehre 1002... Kehre 1003... puuh, das macht nieder. Pfiffe ertönen... andere Pfeifen antworten, offensichtlich sind vor uns Läufer vom Weg abgekommen. Ein Windstoß reißt die Nebelwand kurz auf, gibt Gelegenheit zur Orientierung. Die verirrten Läufer finden wieder zu uns zurück.


Der Aufstieg erschöpft nicht nur mich. Viele machen kurz Pause am Wegrand!

Geschafft, endlich bin ich oben am Col de Montjoia. Die nächsten Kilometer verlaufen eigentlich über einen herrlichen Grat, doch bei dem immer noch anhaltenden Nebel ist die Sicht leider gleich Null. Schade!


Nur selten reißt der Nebel auf und eröffnet Blicke talwärts

Cime de la Valette de Prals, Tete de la Lava, Tete de Cinant, und Mont Lapasse heißen die Gipfel des Kamms, der uns mit mit geringen Höhenunterschieden vorwärts bringt. Der Nebel verliert sich leider nur wenig, ist aber nicht mehr so dicht.


Immer wieder treibt der Wind Nebelschwaden über den Kamm

Vom Mont Lapasse verlassen wir die Höhen. Es geht bergab, wieder zurück nach Madone de Fenestre.  Ich freue mich schon auf die Verpflegung, auf mein Kleiderdepot. Doch bevor wir dort ankommen, überrascht uns noch ein kleiner Hagelschauer, brrr... das hätte nun nicht sein müssen. Na gut, auch schon egal, weiter gehts!


Hagel auf dem Weg nach Madone de Fenestre

Auf dem Weg bergab überholen mich wieder einige der Läufer, die ich in der letzten Zeit selbst überholte. Ich bin das gewohnt. Zuletzt laufen wir als ziemlich große Gruppe ich Madone de Fenestre ein.


Ein Baum hat eine Brücke zerstört. Vorsichtig queren wir das ziemlich tiefe Gewässer.

Danach geht es wieder in "rasender Fahrt" abwärts nach Madone.

Mein zweiter Aufenthalt in Madone de Fenestre fällt etwas kürzer aus als geplant. Ein Blick auf die Uhr, es ist kurz nach Halbacht. Mein Gefühl sagt mir, ich solle noch bei Tageslicht beim Cime de Piagu sein. Der Streckenverlauf am Grat entlang macht mir beim weiterhin möglichen Nebel Sorge. Hinter dem Cime de Piagu steht dann nur noch der Abstieg nach St. Martin an, wobei "nur" dafür der falsche Ausdruck ist. Gerhard schrieb darüber vor 2 Jahren:

Laut Roadbook 11 km nur bergab. Klingt bestens. Das Erwachen kommt schnell. Der Weg ist allerhöchstens noch eine Wegspur, in weiten Teilen trotz Stirnlampe nicht zu erkennen. Ausreichend Markierungen führen durch weitgehend wegloses Gelände zuerst über Blöcke und Geröll, später durch Bergwald steil nach unten. An Laufen ist nicht zu denken. Vorsichtiges Gehen, teilweise Hinabtasten beschreibt die Fortbewegungsart zutreffender. Der Trail erfordert höchste Konzentration.

Also gebe ich entsprechend Gas. Die zunächst anstehenden knapp 500 Höhenmeter gehe ich noch bedächtig an, danach lege ich an Tempo zu. Eine Gruppe von mehreren Läufern ist schnell überholt. Ein-zwei Läufer sind noch gut bei Kräften und ziehen mit, wir bilden unseren eigenen Zug. Zum photographieren ist es durch den bedeckten Himmel mittlerweile zu düster, so kann ich mich beruhigt aufs Laufen konzentrieren. Genau passend schließen wir am Cime de Piagu zu einer größeren Gruppe auf. Die ersten Stirnlampen werden ausgepackt, gemeinsam machen wir uns an den Abstieg.


Über Stock und Stein in der Dunkelheit abwärts (hier ein kurzer Blick zurück)

Ich stelle fest, Gerhard hat in seinen Schilderungen keineswegs übertrieben. Hochkonzentriert mache ich mich an den Abstieg. Mittlerweile ist es stockdunkel geworden. Jetzt kann ich von meiner Zurückhaltung während des Tages zehren. Nach meinen zwei letzen Bildern von der Strecke bin ich alleine unterwegs, kann so meinen Rhythmus laufen. Einen Fehltritt erlauben darf ich mir nicht. Doch der Lichtkegel ist eng, pendelt zwischen dem Ausleuchten des nächsten direkt folgenden Schritts und der Suche nach dem nächsten Wegweiser. 1 1/2 Stunden werde ich für den nächtlichen Abstieg über knapp 1400 Meter auf knapp 8 km Länge benötigen.


Der Schein der Stirnlampe leuchtet nur wenige Meter. Um das Gefälle im Laufschritt zu absolvieren, braucht es volle Konzentration und vor allem Vertrauen in das eigene Vermögen.

Endlich habe ich es geschafft. Durch die Bäume erkenne ich nun hin und wieder den Schein der Lichter von St. Martin de Vésubie. Der steile und steinige Bergpfad verliert langsam an Steilheit, ist wieder leichter zu laufen. Was für ein Gefühl. Der schmale Pfad schlängelt sich durchs Gestrüpp, zack, mein linker Fuß sackt einen halben Meter ab. Ich fange mich ab, komme zum Glück nicht zu Fall. Puuh, das hätte böse enden können. In diesem Augenblick startet in St. Martin ein Feuerwerk.

Irgendwann hat auch der Trampelpfad ein Ende. Am Ortseingang von St. Martin de Vésubie erwarten uns noch schier endlos erscheinende Treppenstufen. Dann die ersten Zuschauer, die mir respektvoll zujubeln. Das ist der Augenblick, in dem alle Schritte an diesem Tag vergessen sind und nur noch der Augenblick zählt. Ein Handkuss nach links, ein Handkuss nach rechts. Ich bin im Ziel.

Stolz auf mich setze ich mich erst einmal auf einen freien Stuhl, entledige mich meines Rucksackes, beobachte die nach mir ins Ziel kommenden Trailer. Ein neben mir sitzender Mann erklärt mir, ich könne mir noch ein Finisher-Geschenk abholen, eine Fleecejacke mit dem aufgestickten Wappentier der Region, einem Steinbock. Steinböcke habe ich leider nicht gesehen. Vermutlich wurden wie von den schnelleren Läufern alle verschreckt.


Die schönen Fleecejacken gibt es in verschiedenen Farben.

Erst am Morgen erfahre ich, dass das Rennen irgendwann nach mir abgebrochen werden musste. Alle in Madone de Fenestre Einlaufenden wurden dort gestoppt. Die Witterungsbedingungen machten das Weiterlaufen zu gefährlich. Der dichte Nebel reflektierte offensichtlich das Licht der Stirnlampen, so dass die Reflektoren nicht mehr aufzufinden waren. Dazu noch der heftige Regen. Sicherlich eine richtige Entscheidung. 

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