"Wer sie nicht kennte, die Elemente, ihre Kraft
und Eigenschaft, wäre kein Meister über die Geister."
Johann Wolfgang von Goethe
Nebel zieht auf in den Bergen
Unser kleines Zelt füllt sich
zusehends. Immer mehr nasse und erschöpft aussehende Läufer kommen an,
greifen dankbar nach einem Teller Nudeln, fallen auf die wenigen Hocker. Ich
überlege nicht lange, hole einmal tief Luft und dann nichts wie hinaus in
die Nässe. Brrrrr.
Schnell laufe ich auf einen
französischen Läufer auf. Gemeinsam eilen wir durchs angenehm zu laufenden
Vallon de Gordolasque. Wir laufen einen schmalen, offensichtlich kaum
genutzten Trail entlang der Straße, ein paar umgestürzte Bäume zwingen uns
zu mühsamen Umwegen. Der Regen schlägt zeitweise in Hagel um, eigentlich
nicht unpraktisch. die Körner prallen an mir ab, ich werde nicht weiter
nass. Und die Größe der Körner hält sich in Grenzen. doch es wird
empfindlich kalt. An photographieren ist nicht zu denken, mir fehlt ehrlich
gestanden bei diesen Bedingungen auch die Lust.
Am Aufstieg zum Col de Monjoia
Ein Krach holt mich aus meinen
Gedanken. Mein Begleiter ist auf einem nassen Stein ausgerutscht. Sofort bin
ich bei ihm. "Are you all right" - "Yes!" Ich reiche ihm meine Hand, ziehe
ihn hoch. Weiter gehts. Ich nehme Tempo heraus, um ihm Gelegenheit zu geben,
wieder in den Rhythmus zu kommen. Wir fühlen uns in diesem Regen mehr als
Partner, denn als Konkurrenten. Mittlerweile sind wir auf 1260 Meter
abgestiegen. Vom Blick in die Karte weiß ich, jetzt wird es heftig, der Cime
de Montjoia wartet, 2366 Meter hoch. Den Aufstieg wird mir als "Aufstieg der
1000 Serpentinen" wohl mein Leben lang in Erinnerung bleiben.
Mein Partner bleibt zurück, er sei
nicht so gut im Aufsteigen meint er. So mache ich mich mutterseelenallein
auf den Weg nach oben.
2 handgezimmerte Kreuze krönen einen
Zwischengipfel
Kehre 1... Kehre 2... Kehre 3, der
Kurs erinnert mich an den legendären Anstieg nach L'Alpe d'Huez der Tour de
France, doch dort sind es nur 21 Kehren, alle benannt nach ehemaligen
Siegern.
Kehre 20... Kehre 21... Kehre 22,
meine Kehren sind viel mehr und nicht benannt. Dafür ohne Unterlass und
steil... Kehre 23... Kehre 24... Kehre 25.
Immer näher komme ich den Wolken. Bald habe
ich sie erreicht!
Langsam aber sicher komme ich den
Wolken immer näher. Es ist absehbar, dass ich bald darin verschwinden werde.
Und die Serpentinen nehmen kein Ende. Gefühlte 100 Kehren liegen schon
hinter mir. Kehre 101... Kehre 102 ... Kehre 103...
Blumen am Wegrand lenken ab von der
Monotonie des Aufstiegs
Bevor ich in den Nebel eintauche,
mache ich eine kurze Pause. Ich habe Hunger und Durst. ein paar Läufer
überholen mich. Das ist gut so, denn dann habe ich Orientierung, wenn ich in
den Wolken verschwinden werde.
Überholen ala Formel 1: passiert wird nur noch bei Stopps
Kehre 197... Kehre 198... Kehre
199. Der Nebel hat mich gefangen. Wir Läufer bilden ohne uns zu verständigen
Partnerschaften. Überholt wird nicht mehr, Nur noch, wenn einer kurz an die
Seite tritt, um zu trinken oder kurz auszuruhen, dann übernimmt eben der
Nächste die Führung.
Wir tauchen in den Nebel ein
Die Orientierung wird zunehmend
schwieriger. Mittlerweile haben wir den Wald verlassen. Der Pfad führt
weiter in Serpentinen über Grashänge. Adrian wird mir später berichten, dass
er hier querfeldein geradeaus den Berg hinauf stürmen konnte. Wir sind froh,
auf dem Weg zu bleiben, halten eifrig Ausschau nach den Markierungen.
Mehrfach laufen wir falsch, müssen umkehren.
Markierungen und der vor mir Laufende sind
kaum mehr erkennbar.
Der Nebel und die fehlende sicht
machen die ständigen Kehren noch zermürbender. Kehre 998... Kehre 999...
Kehre 1000. Geschafft!!!!
Ich habe es hinter mir! Ich habe
die 1000 Kehren bezwungen!
Sichtkontakt halten gibt Sicherheit
Irrtum! Nach einem kurzen ebenen
Stück über einen Grat, fangen die Kehren erneut an: Kehre 1001... Kehre
1002... Kehre 1003... puuh, das macht nieder. Pfiffe ertönen... andere
Pfeifen antworten, offensichtlich sind vor uns Läufer vom Weg abgekommen.
Ein Windstoß reißt die Nebelwand kurz auf, gibt Gelegenheit zur
Orientierung. Die verirrten Läufer finden wieder zu uns zurück.
Der Aufstieg erschöpft nicht nur mich. Viele
machen kurz Pause am Wegrand!
Geschafft, endlich bin ich oben am
Col de Montjoia. Die nächsten Kilometer verlaufen eigentlich über einen
herrlichen Grat, doch bei dem immer noch anhaltenden Nebel ist die Sicht
leider gleich Null. Schade!
Nur selten reißt der Nebel auf und eröffnet
Blicke talwärts
Cime de la Valette de Prals, Tete
de la Lava, Tete de Cinant, und Mont Lapasse heißen die Gipfel des Kamms,
der uns mit mit geringen Höhenunterschieden vorwärts bringt. Der Nebel
verliert sich leider nur wenig, ist aber nicht mehr so dicht.
Immer wieder treibt der Wind Nebelschwaden
über den Kamm
Vom Mont Lapasse verlassen wir die
Höhen. Es geht bergab, wieder zurück nach Madone de Fenestre. Ich
freue mich schon auf die Verpflegung, auf mein Kleiderdepot. Doch bevor wir
dort ankommen, überrascht uns noch ein kleiner Hagelschauer, brrr... das
hätte nun nicht sein müssen. Na gut, auch schon egal, weiter gehts!
Hagel auf dem Weg nach Madone de Fenestre
Auf dem Weg bergab überholen mich
wieder einige der Läufer, die ich in der letzten Zeit selbst überholte. Ich
bin das gewohnt. Zuletzt laufen wir als ziemlich große Gruppe ich Madone de
Fenestre ein.
Ein Baum hat eine Brücke zerstört.
Vorsichtig queren wir das ziemlich tiefe Gewässer.
Danach geht es wieder in "rasender
Fahrt" abwärts nach Madone.
Mein zweiter Aufenthalt in Madone
de Fenestre fällt etwas kürzer aus als geplant. Ein Blick auf die Uhr, es
ist kurz nach Halbacht. Mein Gefühl sagt mir, ich solle noch bei Tageslicht
beim Cime de Piagu sein. Der Streckenverlauf am Grat entlang macht mir beim
weiterhin möglichen Nebel Sorge. Hinter dem Cime de Piagu steht dann nur
noch der Abstieg nach St. Martin an, wobei "nur" dafür der falsche Ausdruck
ist. Gerhard schrieb darüber vor 2 Jahren:
Laut Roadbook
11 km nur bergab. Klingt bestens. Das Erwachen kommt schnell.
Der Weg ist allerhöchstens noch eine Wegspur, in weiten Teilen
trotz Stirnlampe nicht zu erkennen. Ausreichend Markierungen
führen durch weitgehend wegloses Gelände zuerst über Blöcke und
Geröll, später durch Bergwald steil nach unten. An Laufen ist
nicht zu denken. Vorsichtiges Gehen, teilweise Hinabtasten
beschreibt die Fortbewegungsart zutreffender. Der Trail
erfordert höchste Konzentration. |
Also gebe ich entsprechend Gas. Die
zunächst anstehenden knapp 500 Höhenmeter gehe ich noch bedächtig an, danach
lege ich an Tempo zu. Eine Gruppe von mehreren Läufern ist schnell überholt.
Ein-zwei Läufer sind noch gut bei Kräften und ziehen mit, wir bilden unseren
eigenen Zug. Zum photographieren ist es durch den bedeckten Himmel
mittlerweile zu düster, so kann ich mich beruhigt aufs Laufen konzentrieren.
Genau passend schließen wir am Cime de Piagu zu einer größeren Gruppe auf.
Die ersten Stirnlampen werden ausgepackt, gemeinsam machen wir uns an den
Abstieg.
Über Stock und Stein in der Dunkelheit
abwärts (hier ein kurzer Blick zurück)
Ich stelle fest, Gerhard hat in
seinen Schilderungen keineswegs übertrieben. Hochkonzentriert mache ich mich
an den Abstieg. Mittlerweile ist es stockdunkel geworden. Jetzt kann ich von
meiner Zurückhaltung während des Tages zehren. Nach meinen zwei letzen
Bildern von der Strecke bin ich alleine unterwegs, kann so meinen Rhythmus
laufen. Einen Fehltritt erlauben darf ich mir nicht. Doch der Lichtkegel ist
eng, pendelt zwischen dem Ausleuchten des nächsten direkt folgenden Schritts
und der Suche nach dem nächsten Wegweiser. 1 1/2 Stunden werde ich für den
nächtlichen Abstieg über knapp 1400 Meter auf knapp 8 km Länge benötigen.
Der Schein der Stirnlampe leuchtet nur
wenige Meter. Um das Gefälle im Laufschritt zu absolvieren, braucht es volle
Konzentration und vor allem Vertrauen in das eigene Vermögen.
Endlich habe ich es geschafft.
Durch die Bäume erkenne ich nun hin und wieder den Schein der Lichter von
St. Martin de Vésubie. Der steile und steinige Bergpfad verliert langsam an
Steilheit, ist wieder leichter zu laufen. Was für ein Gefühl. Der schmale
Pfad schlängelt sich durchs Gestrüpp, zack, mein linker Fuß sackt einen
halben Meter ab. Ich fange mich ab, komme zum Glück nicht zu Fall. Puuh, das
hätte böse enden können. In diesem Augenblick startet in St. Martin ein
Feuerwerk.
Irgendwann hat auch der Trampelpfad
ein Ende. Am Ortseingang von St. Martin de Vésubie erwarten uns noch schier
endlos erscheinende Treppenstufen. Dann die ersten Zuschauer, die mir
respektvoll zujubeln. Das ist der Augenblick, in dem alle Schritte an diesem
Tag vergessen sind und nur noch der Augenblick zählt. Ein Handkuss nach
links, ein Handkuss nach rechts. Ich bin im Ziel.
Stolz auf mich setze ich mich erst
einmal auf einen freien Stuhl, entledige mich meines Rucksackes, beobachte
die nach mir ins Ziel kommenden Trailer. Ein neben mir sitzender Mann
erklärt mir, ich könne mir noch ein Finisher-Geschenk abholen, eine
Fleecejacke mit dem aufgestickten Wappentier der Region, einem Steinbock.
Steinböcke habe ich leider nicht gesehen. Vermutlich wurden wie von den
schnelleren Läufern alle verschreckt.
Die schönen Fleecejacken gibt es in
verschiedenen Farben.
Erst am Morgen erfahre ich, dass das Rennen irgendwann
nach mir abgebrochen werden musste. Alle in Madone de Fenestre Einlaufenden
wurden dort gestoppt. Die Witterungsbedingungen machten das Weiterlaufen zu
gefährlich. Der dichte Nebel reflektierte offensichtlich das Licht der
Stirnlampen, so dass die Reflektoren nicht mehr aufzufinden waren. Dazu noch
der heftige Regen. Sicherlich eine richtige Entscheidung.
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